Im Gespräch mit Jörg Leinberger, Landesvorsitzender des Verbandes der Lehrer Hessen (VDL), thematisiert Bernd Karst, stellvertretender VDR-Bundesvorsitzender, die Herausforderungen, die auf die Schulen durch die rasante Entwicklung der Digitalisierung zukommen. Zur Sprache kommt auch die aktuelle Schulpolitik in Hessen.
Bildung Real: Auf der Website der Hessenschau kommentiert „Jennifer aus Gießen“ im Anschluss an die Sendung „Kein digitales Konzept für hessische Schulen“: „Unser Bildungssystem hat sich inhaltlich nicht weiterentwickelt. Wozu dann digitale Geräte anschaffen? Weiterhin ist das beliebteste und wichtigste elektronische Medium der Pausengong. Da sind sich Schüler und Lehrer einig!“ (http://www.hessenschau.de/gesellschaft/kein-digitales-konzept-fuer-hessische-schulen-,digitaleslernen-100.html). Ernsthaft nachgefragt, Herr Leinberger: Wie ist das Land Hessen auf Schule 4.0 eingestellt? Ist die digitale Welt an hessischen Schulen angekommen?
Jörg Leinberger: Die sogenannte digitale Welt ist in Teilen an hessischen Schulen angekommen. Es gibt vereinzelt Hardware, wie Computer, Smartboards, WLAN und ähnliches. Es gibt weiterhin – teilweise in Abhängigkeit von der jeweiligen Schule bzw. dem dort tätigen Kollegium – Konzepte zu digitalen Medien. Und es gibt teilweise technikaffine Lehrkräfte, die – zu großen Teilen durch Eigeninitiative – Themen im Zusammenhang mit der Digitalisierung im Unterricht adressieren bzw. digitale Medien einsetzen. Eine umfassende Umsetzung von Digitalisierung an Schulen ist das sicherlich nicht. Wobei ich auch deutlich darauf hinweisen möchte, dass die Digitalisierung auch voraussetzt, sich intensiv darüber Gedanken zu machen, wie sie an Schulen aussehen soll, wo sie nützt und wo sie vielleicht auch eher schadet. Zu klären ist auch die Frage, welche Voraussetzungen dafür geschaffen werden müssen, und zwar sowohl technische als auch inhaltliche. Verstärkt tangiert wird auch die Lehreraus- und -fortbildung sein. Mit der Digitalisierung werden wir zunehmend in der Arbeitswelt konfrontiert, außerdem nutzen die Kinder Handys, Tablets und Computer als Teil ihres Alltags – allerdings vorrangig zum Spielen und zur Kommunikation. Was dieser Umgang mit Schule und insbesondere mit Bildung zu tun hat, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Bildung Real: Beklagt wird vielerorts die mangelnde technische Ausstattung der Schulen. Welche Erwartungen und Forderungen richten Sie konkret an die Politik?
Jörg Leinberger: Für die technische Ausstattung werden über den Digital-Pakt der Bundesregierung einerseits und über die Initiative Hessens andererseits zwar Gelder zur Verfügung gestellt. Berechnungen von Andreas Breiter und Kollegen der Universität Bremen für die Bertelsmann-Stiftung haben jedoch gezeigt, dass diese Gelder nicht annähernd ausreichen, um Schüler flächendeckend mit dem Zugang zu Geräten auszustatten.
Konkrete Forderungen hinsichtlich der Technik setzen aber unseres Erachtens ohnehin voraus, dass Konzepte bestehen, die darüber Aufschluss geben, in welcher Form und mit welchem Ziel Digitalisierung an Schulen betrieben werden soll. Es fehlt also sozusagen an der Software. Schulen mit diesen grundsätzlichen Fragen weitestgehend allein zu lassen, überfordert sie angesichts der zahlreichen Themen und Probleme, die insgesamt bestehen und mit denen sie sich auseinandersetzen müssen. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur einige Aspekte nennen: das Bildungsniveau generell, die Ganztagsbetreuung sowie die Inklusion oder Integration von Flüchtlingen.
Die Technik kommt am Schluss
Bildung Real: Was heißt das mit Blick auf den Schüler?
Jörg Leinberger: Wir müssen an mehreren Punkten ansetzen und hinterfragen: Welche Kompetenzen benötigen Kinder im Umgang mit Medien, d.h. in der Nutzung von Programmen und Standardsoftware? Oder: Welche Fähigkeiten benötigen sie im Bereich des Recherchierens im Internet, aber auch im Hinblick auf die Sensibilisierung zu gesundheitlichen Folgen der Computernutzung, im Hinblick auf Abhängigkeiten aller Art, Schutz von Daten und Privatsphäre bis hin zum Erkennen von Manipulation durch Anbieter? Aber auch: In welchen Bereichen kann Lernen unter Nutzung von Medien hilfreich sein – etwa durch Verwendung von Lernplattformen und Medieninhalten? Und schließlich: Wie kann die Lernumgebung und die Schulwelt im Hinblick auf Digitalisierung verbessert werden, angefangen vom Internetauftritt der Schulen bis hin zur Vernetzung von Klassen und Lehrern? Die Technik kommt am Schluss, wenn die eben angeführten Punkte klar sind. Und vieles davon kann die einzelne Schule nicht allein leisten. Hier ist das Land gefordert. Und zwar bereits jetzt, nicht erst, wenn die Bundesmaschinerie – falls überhaupt – in Fahrt kommt.
Bildung Real: Die Bereitstellung von Whiteboards, Labtops oder Tablets sichert noch längst keinen guten Unterricht. „Auf den Lehrer, die Lehrerin kommt es an!“ sagt der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie. Aber sind die Lehrerinnen und Lehrer denn ausreichend auf die technischen Veränderungen vorbereitet, gibt es attraktive und qualitative Fortbildungsangebote in Hessen?
Jörg Leinberger: In Hessen gibt es nach unserer Wahrnehmung kein flächendeckendes Angebot an allgemein verfügbarer Aus- und Fortbildung. Das Kultusministerium setzt auf Eigeninitiative der Lehrerinnen und Lehrer. Landesweite Konzepte auch hierzu bestehen nicht. Es gibt die Lehrkräfte-Akademie, und es gibt Berater, die sich Schulen holen können. Insgesamt fehlt es aber an pädagogischer Unterstützung gerade in Hessen, wie auch durch eine Studie der Telekom Stiftung „Schule digital“ aus dem Jahr 2016 wieder bestätigt wurde.
Bildung Real: Die Gefahr ist doch, dass Lehrkräfte zunehmend überfordert werden?
Jörg Leinberger: Die digitalen Veränderungen greifen in so viele Lebensbereiche ein, sie bergen Chancen, aber auch Risiken – und je nachdem, mit wem sie sprechen, überwiegt das eine oder das andere. Eine Auseinandersetzung mit ihrer Bedeutung für Schulen, Schüler und Bildung ist daher dringend notwendig. Auf diesen Erkenntnissen, z.B. dem Umfang an Programm- oder Programmierkenntnissen, den Schule vermitteln soll, muss dann, in Abhängigkeit vom vorhandenen Wissens- und Erfahrungsstand der Lehrer, ein Konzept für die Ausbildung entwickelt werden. Man könnte sich beispielsweise fragen, ob es überhaupt notwendig ist, und wenn ja, in welchem Umfang, dass Schüler diese Dinge lernen. Oder ist es nicht eventuell viel wichtiger, dass sie stattdessen solche Dinge lernen und entwickeln, die ein Computer auch in absehbarer Zeit nicht wird leisten können, wie etwa die Vermittlung kritischen Denkens oder Kreativität? Was gehört dazu, fit für die Arbeitswelt zu werden, und was ist davon erwünscht – und was ist für die Persönlichkeitsentwicklung wichtig? Wer sich solchen Fragen nicht stellt, wird sich zwangsläufig auch bei der Lehrerausbildung verzetteln.
Der Lehrer ist nicht ersetzbar
Bildung Real: Welche Rolle hat der Lehrer in einer zunehmenden digitalen Lernumgebung?
Jörg Leinberger: Aus meiner Sicht muss der Lehrer die Schüler bei der Hand nehmen und sie dabei unterstützen, die Welt zu verstehen und ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Das kann er nicht digitalen Medien überlassen. Im Gegenteil: Digitale Medien können, sofern falsch angewendet, dazu beitragen, dass Schüler weniger erfolgreich lernen im Vergleich zur Nutzung analoger Lehrmittel und -methoden. Hierzu gibt es Erkenntnisse aus Studien, wie z.B. der Universität des Saarlandes zum Vokabellernen oder die im Gutachten „Bildung 2030“ des Aktionsrats Bildung der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft zitierte Studie, wonach solche Grundschulkinder, die mindestens einmal wöchentlich Computer nutzten, signifikant schlechtere Kompetenzen in Mathematik besaßen als die Vergleichsgruppe ohne Computernutzung. Es kommt folglich darauf an, wie der Lehrer digitale Medien im Unterreicht nutzt, wofür er sie nutzt, und welche Kompetenzen die Schüler erwerben sollen. Ohne das Unterrichtsgespräch, die persönliche Ansprache und die Reflexion von Lerninhalten findet keine Bildung statt – und das kann nur der Lehrer leisten.
Bildung Real: In Hessen arbeitet die schwarz-grüne Landesregierung seit über vier Jahren weitgehend geräuschlos zusammen. Ein Bildungsgipfel, zu dem Kultusminister Alexander Lorz (CDU) alle Parteien und Verbände an einen Tisch versammelte, sollte den „Schulfrieden“ herstellen. Inwieweit ist ein solcher gelungen, wo sehen Sie die größten Baustellen?
Jörg Leinberger: Der Bildungsgipfel in Hessen wurde je nach Sichtweise als Erfolg oder Misserfolg bewertet. Sollte man wirklich erwartet haben, dass alle Akteure am Ende einen Konsens in der Schulpolitik erzielen würden, dann muss man leider eingestehen, dass dieses Ziel nicht erreicht wurde. Der Gipfel hat aber immerhin erreicht, dass alle Akteure in der Bildungspolitik über einen Zeitraum von einem Jahr in mehreren Sitzungsrunden gemeinsam über die aktuelle und zukünftige Bildungspolitik diskutierten.
Bildung Real: Schildern Sie bitte etwas ausführlicher die aktuelle schulpolitische Situation und die bildungspolitischen Herausforderungen in Ihrem Bundesland Hessen.
Jörg Leinberger: Bereits 1973 warnte die Bildungsverwaltung, die Hauptschule müsse sich „möglicherweise der Problematik einer Restschule stellen“. Lange Zeit wurde vieles versucht, diese Entwicklung zu verhindern – letztlich wurde genau das Gegenteil bewirkt. Die Politik hat dem Hauptschulsterben unbeholfen zugesehen und diesen Prozess damit sogar gefördert. Sie hat dadurch fatale Probleme in Kauf genommen, nämlich eine Nivellierung des Leistungsniveaus und einen zunehmenden Fachkräftemangel, um lediglich zwei Aspekte zu nennen. Grundsätzlich ist es wichtig, dass das Vertrauen in unser Bildungssystem wieder hergestellt wird. Dazu gehört auch die Sicherheit eines beruflichen Erfolges unabhängig vom jeweiligen Schulabschluss.
Auch das Gymnasium hat sich verändert
Bildung Real: Herr Leinberger, Sie sind seit 1991 im Schuldienst. Was sind für Sie rückblickend die prägenden pädagogischen Erfahrungen, was erwarten Sie mit Blick auf die Schulpolitik in den nächsten Jahren?
Jörg Leinberger: Tatsächlich hat die Qualität des Hauptschulabschlusses in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten kontinuierlich abgenommen. Die Schüler haben nicht mehr die Fähigkeiten und Kompetenzen, die aus meiner Sicht völlig zurecht auch von den Arbeitgebern erwartet werden, und zwar sowohl in fachlicher als auch in sozialer Hinsicht.
Schon wenige Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten können eine Klasse so aufmischen, dass alle anderen darunter leiden. Aber es sind nicht nur erzieherische Herausforderungen, die sich zunehmend stellen. Wenn ein Großteil von Flüchtlings- und Inklusionskindern in die Hauptschulen oder in die entsprechenden Klassen integrierter Gesamtschulen geschickt wird, ist regulärer Unterricht kaum noch möglich. Diesen Kindern, die die schulischen Mindestanforderungen insbesondere im sprachlichen Bereich nicht erfüllen, müssen zuvor individuell zugeschnittene Angebote zur Verfügung gestellt und Kompetenzen vermittelt werden, auf deren Grundlage eine spätere Regelbeschulung möglich ist.
Bildung Real: Wohin steuert das Gymnasium in Hessen?
Jörg Leinberger: Derzeit geht der Trend dahin, dass das Gymnasium zur neuen Gesamtschule wird, die dann die ehemaligen Gymnasiasten und die ehemaligen Realschüler umfasst. Die niederschwellige Anpassung der Anforderungen an die heterogene Schülerschaft zeigt sich auch an der Inflation von guten Noten im Abitur. Natürlich ist allen diesen Schülern ein hohes Bildungsniveau zu wünschen. Ich bezweifele allerdings, ob das Abitur künftig noch seinen eigentlichen Auftrag, nämlich die Vermittlung der Studierfähigkeit, erfüllen kann.
Bildung Real: Schwächt eine zunehmende Gymnasialisierung die erfolgreiche duale Ausbildung?
Jörg Leinberger: Unser duales Bildungssystem war und ist mitverantwortlich für den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands. Diese Strukturen erodieren jedoch. Ich wünsche mir daher, dass es gelingt, ein System zu schaffen, welches die individuellen Fähigkeiten und die Förderung stärker in den Vordergrund stellt mit dem Ziel, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Persönlichkeit entwickeln können und einen Beruf finden, der zu ihnen passt und der sie glücklich macht. Davon werden letztlich auch unsere Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt profitieren.
Bildung Real: Schule und Verbandsarbeit erfordern einen enormen Zeitaufwand. Was unternimmt ein Landesvorsitzender, wenn er sich nicht in der Schule aufhält oder für seinen Verband unterwegs ist?
Jörg Leinberger: Ich übernehme gleichermaßen wie meine ebenfalls stark beruflich engagierte Frau die Erziehungsverantwortung für unsere beiden Kinder. Mareike ist 14 und Arne ist 12. Wir freuen uns auf unsere gemeinsamen Unternehmungen, u.a. auf die regelmäßig in den Osterferien stattfindende Fahrt nach Südfrankreich. Außerdem treffen wir uns häufig mit Freunden bei gutem Essen. Auch die Kultur kommt bei uns nicht zu kurz. So gehen wir gerne auch ins Theater oder ins Kino. Letztlich genießen wir unser gemütliches Heim im Familienkreis. Und wenn dann noch ein wenig Zeit übrigbleibt, gehe ich gerne zu einem Heimspiel meiner Frankfurter Eintracht.
Das Gespräch führte Bernd Karst für „Bildung Real“